Anruf einer Unbekannten
„Das gibt’s doch nicht!!!“
Herr Klausmann hielt nur noch die Öse der Christbaumkugel zwischen Zeigefinger und Daumen und sah abwechselnd von den Scherben vor seinen braunen Schnürschuhen zum Telefon auf dem Sekretär.
Ernsthaft überlegte er sich, ob die Kugel durch das Klingeln des Handys aus seiner Hand gerutscht war. Oder durch seine Schusseligkeit.
„Kanzlei Klausmann und Söhne, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Morgen, mit wem spreche ich?“
Das konnte er gerade noch gebrauchen. Vor Weihnachten wollte er keine neuen Aufträge mehr annehmen, schon gar nicht von einer älteren Dame mit ihrer lauten Stimme kurz vor dem 1. Advent. Er hatte sich vorgenommen, den Weihnachtsbaum zu schmücken, denn das tat er grundsätzlich Anfang Dezember. Abends würden seine Enkelkinder zum Pfannkuchen Essen kommen.
„Kanzlei Klausmann und Söhne, was kann ich für sie tun?“ wiederholte er den Satz, mit dem er seit fast 45 Jahren seine Telefonate in der Anwaltskanzlei annahm.
„Ja, guten Tag, ich habe da eine Frage…“
Das konnte heiter werden. Mit seinen Schuhen fegte er, mehr schlecht als recht, die Scherben der goldenen Christbaumkugel zur Seite und setzte sich an den Sekretär.
„Ich suche meinen Neffen, der in Amerika wohnt.“
„Ich verstehe. Und wie heißt ihr Neffe?“ er wollte gleich zur Sache kommen.
„Genau wie ich.“
„Und wie heißen Sie?“
„Ja, das hab‘ ich doch gesagt, Barbara von Lammenstein zu Schwarzfeld.“
„Und ihr Neffe heißt auch Barbara?“ Er schmunzelte über seinen Witz. Musste er der Adeligen denn alles aus der Nase ziehen?
„Nein, natürlich nicht. Mein Neffe heißt Frederik. Frederik von Lammenstein zu Schwarzfeld.“
„Und wo lebt er?“
„Ja, Sie, Herr – wie war nochmal ihr Name – wenn ich das wüsste, würde ich Sie ja nicht anrufen. Können Sie mir helfen? Er ist der Sohn meines Bruders. Der heißt Andreas, wenn Sie das wissen wollen.“
Gerade dachte er, dass die Dame in Schwung gekommen wäre, und ihm für diesen Auftrag mehr Information geben würde.
„Sagen Sie, Sie können mir helfen, oder?“
Er nahm sich seinen Parker zur Hand, den er von seinem Vater bei der Übernahme der Kanzlei bekommen hatte. Er wollte sich ein paar Notizen machen. Allerdings konnte er sich die spärlichen Angaben der Frau von Lammenstein zu Schwarzfeld selbst ohne Notizen merken.
„Ja, jetzt hören Sie mal, meine Schwägerin wird in ein paar Wochen 95 Jahre und wir organisieren eine Surprise-Party für sie.“ Er war überrascht, dass sie diesen Ausdruck kannte, aber Herr Klausmann traute sich nicht, den Redeschwall zu unterbrechen.
„Und dazu wollen wir Frederik einladen. Der ist vor Jahren nach Amerika. Und jetzt wollen wir ihn finden. Sagen Sie, was kostet mich das, weil ja, viel Geld ist jetzt nicht mehr da. Ist alles für die Party von Gudrun draufgegangen.“
Diese Info half ihm jetzt nicht weiter.
„Sie müssen Frederik finden. Ich kann Ihnen einen Vorschuss überweisen. Ich gehe morgen zur Bank und dann bekommen Sie hundert D-Mark. Und einen Finderlohn, den bekommen Sie. Wäre da hundert ausreichend?“
Es war lange her, dass Herr Klausmann mit deutschen Marken gezahlt hatte. Seine Stirn zog sich in sechs lange und zwei kurze Falten.
„Ist in Ordnung, Frau Gräfin. Ich melde mich.“
Schnell drückte er unten links auf den roten Knopf seines Handys. Er hoffte, dass die Dame den Anruf und ihre Bitte schnell vergessen würde.
Er konnte sich nun seinem Christbaum widmen, den Scherben auf dem Boden und einer Tasse Tee mit ein paar frischgebackenen Weihnachtsplätzchen von seiner Schwiegertochter.
Doch die alte Dame ging ihm nicht aus dem Kopf. Von Lammenstein zu Schwarzfeld. Der Name war ihm geläufig. Er wusste, dass die adelige Familie das Schloss im benachbarten Neuenburg bewohnte.
Man munkelte über die Grafenfamilie. Vor allem, wenn er und seine Kollegen sich, nach einer Gerichtsverhandlung, zu einem kleinen Umtrunk trafen. Da wurde oft über die Familie geredet. Wenn er ehrlich war, er hatte lange nichts mehr von ihr gehört. Es war ihm unbekannt, ob die Familie dort noch wohnte. Zur Sicherheit speicherte er die Nummer der Dame in seinem Handy. Es war eine Festnetznummer, das hatte er gesehen. Seine Gedanken waren beim Pfannkuchen Essen mit Max und Lotte. Er freute sich auf die beiden. Sie kamen jeden Donnerstag bei ihm Pfannkuchen essen, das Einzige, was er wirklich gut zubereiten konnte. Nach Jahren der Übung und mit dem Rezept seiner geliebten Marie war es einfach: Sie hatte das Rezept von ihrer holländischen Patentante bekommen und nannte es immer ‚Drie-in de-pan‘. Es waren drei kleine Pfannkuchen mit Rosinen und die Kinder liebten sie.
Pfannkuchen backen
Nachdem er seinen Tee getrunken hatte, stellte Herr Klausmann sich Mehl, Eier und Rosinen auf die Anrichte, den Mixer und eine Rührschüssel.
„Ai, da fehlt mir tatsächlich Milch…“
Er ertappte sich, dass er vor allem in der Küche, Selbstgespräche führte. Bei seiner Arbeit passierte ihm das nie. Hier fühlte er sich seiner verstorbenen Frau nahe.
Er nahm sich seine Schlüssel und das Handy vom Sekretär und verabschiedete sich mit einem kurzen Blick vom Weihnachtsbaum. Max und Lotte würden ihm nachher beim Schmücken helfen.
Der Supermarkt lag ums Eck. Die Kanzleiwohnung lag ideal in der Staufener Altstadt. Während seiner Studienzeit hatte 4 Semester in Freiburg gewohnt. Das hatte ihm gereicht. In Staufen war ihm alles vertraut und er war froh, als er danach bei seinen Eltern in die Dachgeschosswohnung ziehen konnte. Später zog er mit Marie und den Kindern in die Kanzleiwohnung. Mit seinen fast 70 Jahren hatte er alle kleinen und größeren Veränderungen der Faust-Stadt miterlebt. Es war dunkel, nur die Weihnachtsbeleuchtung erhellte die Straße. Der Anblick war wie jedes Jahr wunderschön.
In dem kleinen Supermarkt begrüßte er die Verkäuferinnen und ging zielstrebig an das Kühlregal mit den Milchprodukten. Er nahm sich einen Joghurt mit und ein Päckchen gute Butter, um flott Richtung Kasse zu laufen. Der Supermarkt hatte sich in der Zeit verändert. Nur eins, das veränderte sich nicht. Wie bei seiner Mutter und Marie, er brauchte nicht zu bezahlen. Jeden Monat bekam er die Rechnung, die er pünktlich und unverzüglich beglich.
Er dachte darüber nach, ob seinem Sohn dieser Service in Zukunft angeboten würde. Zum Jahresende würde Alexander die Kanzlei übernehmen und mit Frau und Kindern in die große Wohnung ziehen. Er selbst hatte sich die Einliegerwohnung im Erdgeschoss eingerichtet. Nur der alte Sekretär und ein paar andere Sachen mussten nach unten gebracht werden. Von dort würde er weiterhin seinen Mandanten zur Verfügung stehen. Er freute sich mächtig darauf, dass Max und Lotte dann endlich bei ihm im Haus wohnen würden.
In Gedanken aber mit einem herzlichen Gruß verabschiedete er sich.
„Denken Sie an die Rechnung. Es ist fast Monatsende. Bald ist 1. Advent“
„Das mach ich, Herr Klausmann. Dienstag haben Sie sie im Briefkasten. Wie versprochen.“
Er lief hinaus auf die beleuchtete Straße. Die bunten Lichter spiegelten sich auf den Straßensteinen. Er wollte sich so schnell wie möglich an die Pfannkuchen ranzumachen.
Innerhalb von knappen 5 Minuten war er zurück in seiner geliebten Altstadtwohnung.
Er hatte die Kanzlei mit 27 Jahren von seinem Vater überschrieben bekommen. Jetzt war es an der Zeit, dass Alexander seinen Platz einnehmen würde. Nun wollte er sich zur Ruhe setzen.
Nach einer dreiviertel Stunde roch die Wohnung süßlich lecker nach frisch gebackenen Pfannkuchen. Er hatte sie, wie Marie früher, auf einen großen Teller gestapelt, den er auf einen Topf mit heißem Wasser gestellt hatte. So bleiben sie schön warm, hatte sie gesagt. Bei dem Gedanken an seine verstorbene Frau und die Vorfreude auf die Enkel wurde ihm warm.
Der Tisch war gedeckt, als es Sturm klingelte. Das waren die Kinder, das wusste er. Alexander hatte einen Schlüssel, die beiden klingelten, wenn sie kamen. Er hörte sie die Treppe hinaufspringen.
„Opa, Opa, schau, was wir dir mitgebracht haben?“
„Hallo, meine Lieben. Wie schön, dass ihr da seid. Bleibst du noch, Alexander?“
„Nein, du weißt, ich treffe mich gleich mit Johanna. Wir gehen zum Griechen. Die Kinder hole ich gegen halb 10. Lasst euch Zeit. Max braucht morgen nicht in die Schule.“
Alexander war schon wieder weg.
„Jetzt kommen erst die Pfannkuchen auf den Tisch, Kinder. Es ist schön mit euch.“
„Opa, Opa, schau doch…“
Die Geschichten aus der Schule und dem Kindergarten sprudelte aus ihnen heraus.
Sie aßen einen Pfannkuchen nach dem anderen und erzählten Herrn Klausmann währenddessen alle Erlebnisse der letzten Tage. Lotte zeigte ihm ihre Schürfwunden vom Sturz von der Rutschbahn und Max wollte unbedingt erzählen, wie er mit Papa das alte Radio in Einzelteile zerlegt hatte.
Als alle Teller leer waren, wurde gesungen. Das taten sie immer. Früher wurde bei Herrn Klausmann natürlich gebetet, das hatte er nach der Hochzeit mit Marie eingestellt. Jetzt wurde nur noch gesungen und gelacht.
Nachdem sie den Weihnachtsbaum ein bisschen geschmückt hatten, holte Max das alte Monopoly aus der Spielekiste und es wurde auf den verschiedenen Straßen Häuser und Hotels gebaut, bis es Max gelungen war alle Besitztümer seines Opas an sich zu nehmen. Lotte schlug sich tapfer, konnte schlussendlich nicht mehr gewinnen.
„Jetzt muss ich dir zeigen, was ich alles gefunden habe“, sagte Lotte.
Sie hatte von Marie ein kleines Täschchen bekommen und in diesen tat sie alle ihre Fundsachen. Sehr zum Gram ihrer Mutter, die jede Woche altes Zeug wegschmeißen konnte.
Heute war Herr Klausmann dran: „Zeig her, mein Kind.“
Lottes Fundsachen
Max hatte sich mit seinem Gameboy ins Wohnzimmer verkrümelt und Lotte leerte begeistert den Inhalt ihres Täschchens. Auf dem Tisch lagen drei Bonbon-Papierchen, von dem nicht mehr zu erkennen war, welche Bonbons zuvor drin gewesen waren, ein Tic-Tac-Döschen mit vielen kleinen Kratzern, eine alte Batterie, die fast auslief, ein Fünf-Pfennigstück, wirklich eine Seltenheit in Zeiten des Euros und ein kleiner, alter Geldbeutel, einer von der Sorte mit Magnetklips. Wo gab es denn sowas noch?
Herr Klausmann war nicht begeistert von den Fundsachen seiner Enkelin.
„Und was machen wir damit, Lotte?“
„Ach, das kann in den Müll. Aber nicht die Schachtel. Die heb‘ ich auf.“
Das dachte er sich. Ein altes klebrige Tic-Tac-Döschen wollte Lotte behalten.
„Da kann ich was reintun. Und in den Geldbeutel auch.- Ich bin müde.“
„Papa kommt bestimmt bald.“
Herr Klausmann räumte die Teller und das Besteck in die Spülmaschine und wischte über den Tisch. Lotte legte ihren schweren Kopf auf die Tischplatte zurück. Es war wirklich spät.
Er hatte ein gutes Verhältnis zu Alexander und Johanna. Seine Schwiegertochter war Finanzberaterin bei der Deutschen Bank. Treasury Consulting, hieß das heutzutage. In ein paar Wochen wohnten sie alle beisammen an der Kirchstraße 2.
Er hörte Alexander kommen, als er die letzten Spuren in der Pfannkuchenbäckerei aufgeräumt hatte. Nachher wollte er sich mit einem Glas Wein zum Lesen in sein Arbeitszimmer zurückziehen.
„Hallo Papa, wie war es? Wir hatten einen wunderschönen Abend. Ich kann es kaum erwarten, hier bei dir zu wohnen. Die Handwerker haben zugesagt, nächste Woche die Kinderzimmer fertig zu machen. Es ist fantastisch, dass du die Kinder dann ins Bett bringen kannst, wenn wir weg möchten.“
Genau sein Gedanke. Er freute sich.
„Kommt, ihr beiden?!?“ Und zu seinem Vater: „Das wäre schön. Warten wir es ab.“
„Schlaft gut!“
„Du auch, Papa. Mach nicht mehr so viel.“
Alexander lief mit Lotte auf dem Arm und Max an der Hand nach unten. Herr Klausmann schaute ihnen nach und winkte bis er die Tür ins Schloss fallen hörte.
Allein aber keineswegs einsam zog er sich zurück. Sein Glas Wein hatte er bereitgestellt. Lotte hatte ihre Fundsachen liegen gelassen. Er würde ihr das Täschchen Samstag zurückgeben, den Müll entsorgte er. Ebenso das gammelige Döschen. Er würde ihr ein neues kaufen. Den kleinen Geldbeutel legte er zusammen mit dem Täschchen auf seinen Sekretär. Er musste schmunzeln. Daneben lag der neuste Freiburg-Krimi von Ralf Kurz. ‚Die Honigspur‘ stand auf dem Umschlag. Eine halbe Stunde hatte er, bevor Herr Klausmann sich zur Ruhe legen wollte. Er setzte sich mit dem Buch und seinem Glas Wein in den Ledersessel neben dem Sekretär. Statt zu lesen, kursierte so mancher Gedanke an den heutigen Tag durch seinen Kopf.